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Erschienen in: Ausgabe #5 vom Januar 2006


von Torsten Preuß

Kommunitarismus und Gemeinschaft.

Verortung

Während der Kommunitarismus in Deutschland eher ein Schattendasein pflegte, war er insbesondere in den 80er und 90er Jahren des letzen Jahrhunderts im amerikanischen Raum einer recht breiten Diskussion unterworfen. Ideengeschichtlich kann man den Kommunitarismus als eine Art Gegenentwurf zum aufkommenden (Neo-) Liberalismus (und hier insbesondere zu John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“) und einer zunehmenden Individualisierung in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts verorten. Bekannteste Vertreter waren in den 80er Jahren Axel Honneth und Michael Sandel, in den 90er Jahren machte sich der Soziologe Amitai Etzioni als Vertreter des Kommunitarismus einen Namen. Insbesondere letzterer beruft sich in seinen Schriften unter anderem sich auf die soziologischen Klassiker Durkheim und Parsons. Der Kommunitarismus betont explizit, keine linke oder rechte (im politischen Sinne) Theorie zu sein, sondern will vielmehr partei- und ideologieübergreifende Vorschläge für alle Mitglieder der Gesellschaft zu bieten.

Am Beispiel des Soziologen Amitai Etzioni möchte ich zeigen, was Kommunitaristen unter Gemeinschaft verstehen. Etzioni war Gründer des kommunitaristischen Netzwerks und nimmt derzeit die Rolle des politischen Vordenkers des Kommunitarismus ein. Etzioni lehrte in Berkeley und war politischer Berater der amerikanischen Präsidenten Carter und Clinton. Seine wissenschaftlichen Arbeiten sind deshalb auch eher sozialwissenschaftlicher als philosophischer Natur.

Der Begriff der guten Gemeinschaft

Der Begriff der guten Gesellschaft ist einer der zentralen Punkte für die Vertreter des Kommunitarismus. In der Konsequenz bedeutet dies für Kommunitaristen auch, dass das Gute dem Gerechten vorzuziehen ist (und sich damit von Rawls deutlich zu distanzieren). Etzioni [1] weist diesbezüglich jedoch darauf hin, dass man den Begriff der (guten) Gesellschaft nicht losgelöst vom Kontext der jeweiligen Zeit betrachten darf. Eine Gesellschaftsordnung, die im 18. Jahrhundert als sinnvoll und gut erachtet wurde (also im Zweifel auch eine liberale Ordnung), könnte in der Regel heute als völlig überholt gelten. Kommunitaristen sehen in ihren Entwurf einer guten Gesellschaft eine Antwort auf den ihrer Meinung nach derzeit herrschenden exzessiven Individualismus, in dem zwar jeder um den Erhalt oder gar Ausbau seiner individuellen Rechte und Freiheiten besorgt ist, aber dabei allzu leicht vergisst, das aus diesen individuellen Rechten auch Pflichten resultieren. Dabei soll das kommunitaristische Programm nicht nur ein Vorschlag für die so genannten westlichen Gesellschaften sein, sondern aufgrund seiner allgemeinen und von allen Kulturen anerkannten Werte ein Entwurf für alle Formen von Gemeinschaften sein. Grundlage hierfür ist, dass es in den Augen von Etzioni einen Kanon von (fundamentalen) Werten gibt, der von allen Menschen, gleich welcher Herkunft, geteilt und akzeptiert wird. Und diese geteilten und akzeptierten Werte sollen Grundlage einer (guten) Gesellschaft sein.

Was macht eine gute Gemeinschaft aus?

Die gute Gemeinschaft stellt nach Meinung der Kommunitaristen einen moderaten Ausgleich zwischen der vom Liberalismus geforderten individuellen Autonomie und einer ausgewogenen sozialen Ordnung her. Dabei ist zu beachten, dass nach Meinung von Kommunitaristen sich beide Positionen gegenseitig bedingen und sich keinesfalls gegenseitig ausschließen müssen. Ohne ein Mindestmass an Sozialer Ordnung kann es nach Meinung von Kommunitaristen überhaupt keine individuelle Freiheit geben. Eine stabile soziale Ordnung garantiert erst, dass der Einzelne seine Freiheiten (aus-) leben kann. Dies drückt sich auch in der „Neuen Golden Regel“ aus, die Etzioni in Anlehnung an Kants Goldene Regel folgendermaßen formuliert: „Achte und wahre die moralische Ordnung der Gesellschaft in gleichem Maße, wie du wünschst, dass die Gesellschaft deine Autonomie achtet und wahret.“[2]

Ausgehend von dieser „Neuen Goldenen Regel“ wird das Fundament „entwickelt“, auf dem eine gute Gesellschaft basiert: Solidarität mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft, Verantwortungsgefühl für sich und andere, eine freiwillige Anerkennung der Ordnung und eine auf individuellen Werten basierenden Autonomie. Etzioni drückt es so aus:

„Kommunitaristen sprechen sich dafür aus, die moralischen, sozialen und politischen Grundlagen der Gesellschaft zu stärken. [...] Kommunitaristen setzen auf moralischen Dialog, Erziehung und Bildung, wenn es darum geht, andere von ihren Idealen zu überzeugen, anstatt ihnen ihre Werte durch den Druck des Gesetzes aufzunötigen. Sie haben Vertrauen in das Vertrauen.“[3]

Gemeinschaft?

Wie soll unsere Gesellschaft zur guten Gemeinschaft werden?

Der Wille zur Veränderung von Gesellschaften kann für Kommunitaristen nicht von oben, sondern nur von unten kommen. Ausgehend von der kleinsten Gemeinschaft (der Familie) sollen Diskussionen über Normen und Werte der Gesellschaft angestoßen werden. Und diese sollen dann von allen Mitgliedern dieser Gemeinschaft im Bekanntenkreis fortgeführt werden. Und da jeder Mensch Mitglied in zahlreichen Gemeinschaften ist (Kegelclub, Partei, Interessenverein, Freundeskreis, etc.), wird auch garantiert, dass keine Gemeinschaft die Meinung eines Mitgliedes zu sehr unterdrückt. Wäre dies der Fall, würde sich das entsprechende Mitglied sehr wahrscheinlich aus der ihn unterdrückenden Gemeinschaft zurückziehen und sich in anderen Gemeinschaften stärker engagieren.

Die Aufgaben des Staates sind in diesem Diskussionsprozess darauf beschränkt, die Meinungsfreiheit zu garantieren (wobei diese nicht unbeschränkt gelten soll!) und Ressourcen für Diskussionsprozesse bereitzustellen. Diese Ressourcen könnten beispielsweise öffentliche Räume sein, welche einen moralischen Dialog befördern können und Aufrufe durch die Politik, Probleme in eben diesen Räumen zu diskutieren. Grundlage für die durch solche Diskussionen zu erreichenden Veränderungen (oder eher: Verbesserungen) sollen die persönlichen Moralvorstellungen sowie das Gewissen des Einzelnen sein. Hintergrund und Grundlage für dieses stark normative Gerüst einer Gesellschaft soll das Erziehungs- und Bildungssystem sein. In diesem sollen Grundwerte vermittelt werden, auf welche sich die Gesellschaft zuvor geeinigt hat und die auch jedem Mitglied der Gesellschaft bekannt sein sollen. Welche Werte dies genau sind, verrät Etzioni leider nicht. Zudem soll in staatlichen Schulen eine offene Streitkultur herrschen, damit auch dort schon vorhandene Werte diskutiert und gegebenenfalls neu verhandelt werden können.
Ausgehend von Diskussionen auf lokaler Ebene sollen zunächst nationale Gemeinschaften (=Staaten) und am Ende eine auf Konsens und gemeinsam geteilten Werten bestehende Weltgemeinschaft entstehen…

Wo ist der Haken?

Auf den Punkt gebracht, haben viele Kommunitaristen (und Etzioni im Besonderen) das Problem, dass sie ihre Ausführungen gerne als Programm einer besseren Gemeinschaft betrachten. Wie diese bessere Gemeinschaft dann aber zu erreichen ist, bleibt bei Ihnen im „Schleier des Nichtwissens“.[4] Natürlich werden die Besinnung auf Normen und Werte, sowie der Vorrang des Guten vor dem Gerechten immer wieder genannt. Es fehlt jedoch eine Nennung von bestimmten (kommunitaristischen) Grundwerten und es wird auch nicht geklärt, was denn nun das Gute ist, wie genau und warum man zur beschriebenen idealen kommunitaristischen Gesellschaft überhaupt kommen soll. Dass in der vom Kommunitarismus entworfenen Gemeinschaft das Individuum hinter die Gemeinschaft tritt, muss man zunächst nicht kritisieren. Aber die Begründung, warum der oder die Einzelne dies eben machen sollte, fällt recht kurz aus. Zudem wirkt das Werk Etzionis an vielen Stellen eben nur wie die Handlungsanleitung für Politiker, und nicht wie eine echte Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen.
Das wirft insgesamt ein schlechtes Licht auf die kommunitaristische Idee, da sie selbst verspricht, ein wenig Klarheit und Ordnung in der durch (neo-) liberale Entwicklungen in Bewegung (oder Unordnung) geratenen Welt zu schaffen.

Anmerkungen

[1] ETZIONI 1999: S.21f.

[2] Ebd., S.19.

[3] Ebd., S.111f.

[4] Der Schleier des Nichtwissens geht zwar auf den Rawls´schen Urzustand zurück, er schien mir an dieser Stelle aber als Bezeichnung der Unklarheit recht passend

Literatur:

[ETZIONI 1999]: ETZIONI, Amitai: Die Verantwortungsgesellschaft. Berlin 1999.
NÜBEL, Hans Ullrich (Hg.): Jeder nur sich selbst der Nächste? Inder Erziehung Werte vermitteln. Freiburg 2001.
RAWLS, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. Main 1975