von Vladimir Malachov
Über Kontinuität und Diskontinuität der russischen Geistesgeschichte
VORBEMERKUNG DER REDAKTION: Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um die
gekürzte Zweitveröffentlichung eines gleichnamigen Aufsatzes aus „Dialektik“
1998/1 mit dem Titelthema „Die Idee der Tradition“. Dort werden vom
Autor die Probleme eines bestimmten (hermeneutischen) Ansatzes zur Frage der Tradition
am Beispiel der russischen Geistesgeschichte gezeigt. Für die neue Veröffentlichung
ist aber gerade jener kulturgeschichtliche Teil thematisch interessant, der im
Originaltext als Illustration gedient hat. Den Kürzungen durch die Redaktion
sind daher in erster Linie die methodologischen Bemerkungen und die Darstellung
der hermeneutischen Begrifflichkeiten bezüglich des Problems der Tradition
zum Opfer gefallen. Als roten Faden der folgenden Abschnitte können wir die
Frage ansehen, inwiefern sich die russische Geistesgeschichte des 20.Jahrhunderts
als eine einheitliche Tradition verstehen lässt.
Der Mythos der „Rückkehr“
Bei näherer Betrachtung sehen wir sehr deutlich, daß die Einheit
des „Russischen“ von Historikern erst zu einer (systematischen)
Einheit gemacht worden ist, die eine Fülle von sehr verschiedenen Komponenten
aufweist. So wird der „mainstream“ der russischen Philosophie durch
Vladimir Solovev, die Brüder Evgenij und Nicolaj Trubeckoj, Pavel Florenskij,
Nicolaj Berdjaev und andere repräsentiert. In der Literatur sind es die
großen Realisten Gogol, Dostoevskij, Tolstoj und Tschekov, im politischen
Denken Kireevskij, Chomjakov und Leontev. In der Kunst gelten als repräsentativ
Surikov, Repin und Kramskoj. Dagegen ist einzuwenden, dass es etwa in der russischen
Philosophie neben den Systemen des religiösen Idealismus auch antisystematische
und anarchistische Denker wie Vassilij Rozanov gab, dass es in der russischen
Literatur zugleich mit der Tradition des moralischen Rigorismus eines Tolstoj
oder heutzutage eines Soltschenicyn auch konsequente Amoralisten wie Vladimir
Nabokov und eine Reihe zeitgenössischer Schriftsteller gab und gibt, die
sich insgesamt von der erwähnten großen Tradition absetzen. Auch
in der Kunst gibt es viele Künstler, die mit dem Bild einer russischen
Kunst als Quintessenz religiöser Schöngeisterei und Schwärmerei
nichts am Hut haben. Im Bereich des politischen Denkens gibt es so ziemlich
alle Formen des 20. Jahrhunderts: Liberalismus und Faschismus, nationalistischer
Fundamentalismus und Anarchismus, Marxismus und Trotzkismus. So scheint es mehr
als angemessen zu sein, nicht von einer Tradition in einer Sprache zu sprechen
und stattdessen von mehreren Traditionen darin.
Am Ende der von Gorbatschov eingeleiteten Zeit der Perestrojka lautete die meistgebrauchte
Metapher, womit man alle Vorgänge in der Sowjetunion auf einmal erklären
wollte: „Rückkehr“. Diese Metapher gehört mit ihren Derivaten
Neugeburt, Neubelebung, Renaissance, Grundfinden, Suche nach der Wurzel etc.
zum Gedanken der Tradition mit großem „T“. Jeder glaubt sich
mit ihr verbunden, schon nur allein aufgrund einer Beschäftigung damit.
Die Rückbeziehung scheint eine Sache der persönlichen Anbindung zu
sein. Aber wenn es sich um Rückkehr handelt, wozu genau will man zurückkehren?
Zum Zeitpunkt von 1917, der Revolution oder (in traditionalistischer Sicht)
dem „Staatsstreich“, oder nach 1922, als die führenden Intellektuellen
ins Exil gingen? Zielt man auf das Jahr 1831, als Tschaadajevs Philosophische
Briefe geschrieben wurden, oder auf das von 1874, als Vladimir Solovev sein
erstes Buch veröffentlichte? Der edle Glaube daran, die „Tradition
zu ehren“, ist jedenfalls mit der Illusion ihrer Fortführung verbunden.
Wer heute über Solovev oder andere klassische russische Denker schreibt,
ist meist zutiefst überzeugt, dass er durch sein Schreiben selbst sich
in einen Angehörigen dieser Tradition verwandelt. Die Kommentatoren der
Tradition sehen sich selbst als deren Vehikel.
Man kann also sagen, dass diese russischen Autoren, die sich in die russische
Tradition versenken, tatsächlich hermeneutisch vorgehen, ohne dass man
ihnen eine Kenntnis deutscher oder französischer Hermeneutik unterstellen
muss. Sie mythologisieren ihre Vergangenheit, ähnlich wie es die Anhänger
der Hermeneutik in Deutschland auf philosophischer Ebene tun. In Russland versucht
man erfolgreich, den Bruch in der Tradition zu ignorieren. Im Kommentieren wird
so getan, als bestehe keine Kluft zwischen den Texten der vor-revolutionären
Epoche und der Gegenwart, obwohl diese Kluft ein sehr sichtbares und erfahrbares
Faktum ist. Übrigens ist diese Kluft keineswegs leer. Sie enthält
einen spezifischen Inhalt, der in der Interpretation der Tradition einbezogen
werden muss.
Es gibt noch ein anderes Verhältnis zur „Rückkehr“: Man
versteht sie nicht als Rückkehr zur (nationalen) Geschichte, sondern als
Rückkehr zur (internationalen) Zivilisation. Die Vertreter dieses Ansatzes
sind westlich orientierte Intellektuelle, Buch- und Zeitschriftenherausgeber,
die sich als Ziel gesetzt zu haben scheinen, ihren Lesern die Dinge zurückzugeben,
die ihnen im Lauf von Jahrzehnten vorenthalten wurden. Kann aber diese Aufgabe
erfüllt werden? Kann man im kulturhistorischen Bereich überhaupt etwas
zurückgeben?
Die vor 30 oder 40 Jahren verlegten Bücher haben ihr eigenes Leben gelebt,
sie wurden zitiert, diskutiert, kritisiert. Andere Bücher wurden unter
ihrem Einfluss geschrieben oder richteten sich gegen sie. Es steht also eine
lange Geschichte hinter ihnen, ein bestimmtes kulturelles Klima hat sie geprägt
bzw. wurde durch sie geprägt. Wenn diese Bücher nun erneut verlegt
oder ins Russische übersetzt werden, fehlt beides. Man kann die über
Jahre nachwirkenden Entstehungsumstände nicht in wenigen Jahren ersetzen.
Die auf eine Füllung der Kluft abzielende kulturelle Geste scheint mir
darum nicht fruchtbar, nicht produktiv. Sie ist auch überflüssig,
denn jede Kultur lebt ihre eigene Zeit.
Auch wenn es auf den ersten Blick paradox erscheint, ist die Zeit der russischen
Kultur im 20. Jahrhundert fast genau mit der Zeit der westlichen Kultur parallel.
Um sich davon zu überzeugen, muss man sich nur sowjetische Filme der dreißiger
oder fünfziger Jahre anschauen oder sich die Musik dieser Jahrzehnte anhören.
Der sowjetische Jazz der dreißiger Jahre (Leonid Utesov und andere) unterscheidet
sich kaum vom mainstream-Jazz in den USA oder in Europa. Auch die russisch-sowjetische
Ästhetik zur Mitte dieses Jahrhunderts war weitgehend dieselbe wie die
amerikanische oder westeuropäische, wenn man etwa an die Architektur, an
Straßenfestivals oder Massensportveranstaltungen denkt.
Der eiserne Vorhang erwies sich als nicht vollständig undurchlässig.
In den fünfziger Jahren gab es eine russische Version der Beatniks - Nonkonformisten
wurden „stiljagi“ genannt - und in den Siebzigern auch Hippies.
Die Atmosphäre der sechziger Jahre war in Moskau und Leningrad schwanger
mit Existentialismus, gerade so wie in den großen Städten des Westens.
Dennoch handelte es sich nicht um bloße Imitation. Stimmungen lassen sich
schlecht nachschaffen, sie entstehen gewissermaßen „trotzdem“.
Etwas liegt in der Luft, das an verschiedenen Orten des Planeten gleichzeitig
und ohne wechselseitige Verbindung durchbricht. Was in der Kultur, oder, genauer
gesagt: in der Subkultur der Sowjetunion, ans Tageslicht trat, war den westlichen
Kulturen parallel. Manchmal fielen die Ereignisse zeitlich zusammen, manchmal
ging eine Seite der anderen voran. Mir kommt es hier darauf an festzustellen,
dass es in Russland ein Phänomen der Basis war, das hier zu beobachten
ist, keines der Imitation oder des Imports.
Nehmen wir das Beispiel von Vladimir Vyssockij, dem Sänger, Dichter und
Schauspieler, der die russische Kultur der sechziger und der siebziger Jahre
prägte. Er ähnelt westlichen Songschreibern und Musikern und ist doch
ganz anders. Seine Lieder entstanden nicht als Ergebnis einer Übertragung
von westlichen Mustern, sondern als Ausdruck einer spezifischen sozialen Erfahrung.
Diese Erfahrung war im russischen Kontext sicher einzig, zugleich aber auch
verwandt mit der Erfahrung vergleichbarer westlicher Künstler: Es ging
um den zweiten Weltkrieg, den Atombombenabwurf über Hiroshima und die Entfremdung
der Gesellschaft vom Staat, die komplexen Prozesse der Selbstfindung im Großstadtleben.
Andere Beispiele bieten die Geisteswissenschaften. Claude Levi-Strauss stieß
erst nach der Veröffentlichung seines Werks über die strukturale Anthropologie
auf das Werk von Vladimir Propp, Die Morphologie des Märchens (1938). Propp
konnte als Strukturalist avant la lettre entdeckt werden. Ein anderes Beispiel
ist Michail Bachtin, dessen Arbeiten auf dem Gebiet der Ästhetik zur Mitte
des Jahrhunderts durchaus mit westlichen Arbeiten mithalten konnten und so ja
auch etwas später rezipiert worden sind. So stieß bereits in den
sechziger Jahren die Philosophin Julia Kristeva auf Bachtin und hielt in Paris
über ihn ein Seminar. Bachtins Einsichten in die polyphone Struktur von
Dostoevskijs Romanen lassen Anklänge an die Dialogphilosophie etwa eines
Martin Buber oder Emmanuel Levinas erkennen. Über zwei Jahrzehnte hinweg
führten die Mitglieder der Semiotischen Schule in Moskau und Tartu Untersuchungen
auf dem Feld der Linguistik und der Literaturgeschichte durch, die im internationalen
Zusammenhang durchaus mithalten konnten.
In den sechziger Jahren gab es im Westen die Studentenbewegung und ein Aufblühen
des Neomarxismus. Klarerweise konnte das so in der Sowjetunion unter den Bedingungen
einer Einparteiendiktatur nicht stattfinden. Ein Echo dieser Bewegungen und
Veränderungen aber war auch in Russland zu hören, wenn man etwa an
die Philosophie der Praktik denkt, die von einigen Denkern in Moskau entwickelt
wurde und derjenigen von Louis Althusser oder derjenigen der Zagreber Praxis-Schule
zur Seite stehen kann. Als man in den achtziger Jahren von der Postmoderne zu
sprechen begann, war das in Russlands großen Städten jedenfalls keine
Überraschung. Die russischen Diskussionen um die Postmoderne rekapitulierten
nicht einfach Lyotard, Baudrillard oder Jameson, sie reflektierten vielmehr
eigene Probleme. So wie wir in Russland die Massenmedien aushalten müssen,
so stehen wir auch allen Problemen der sogenannten Postmoderne gegenüber.
Das „Verschwinden des Sozialen“ ist keine Erfindung Baudrillards,
sondern eine tatsächliche Entwicklung, die im heutigen Russland erfahren
wird.
Zur Situation der Philosophie
Jede Kultur hat ihren eigenen Kontext, und die Kulturprodukte können nur
diesem Kontext entsprechend „gelebt“ werden. An diesem Kontext liegt
es, wenn heute Heidegger in Russland aktiv rezipiert wird, die analytische Philosophie
dagegen kaum. Die russische Situation ist ganz offenbar für eine Rezeption
des Poststrukturalismus günstig, nicht aber für eine des Marxismus
oder der kritischen Theorie. Versuchen wir zu klären, woran das liegt.
Bleiben wir beim Beispiel Heidegger. Für das vielfach zu beobachtende enthusiastische
Verhältnis zu Heideggers Philosophie in Russland können meines Erachtens
mehrere Voraussetzungen geltend gemacht werden. Erstens eine historische Voraussetzung:
Die philosophische Sprache hat sich in Russland im Laufe des 19. Jahrhunderts
unter dem starken Einfluss des deutschen klassischen Idealismus herausgebildet:
Hegel und insbesondere Schelling. Im 20. Jahrhundert, d. h. vom Anfang der zwanziger
bis zum Ende der fünfziger Jahre, wurde eine beinahe vollständige
russische Ausgabe von Hegels Werken herausgegeben. Diese Bücher in glänzender
Übersetzung haben enorm zur Ausbildung der Sprache der gegenwärtigen
russischen Philosophie beigetragen.[1] Diese gründliche Arbeit der philosophischen
Übersetzung aus dem Deutschen wurde in den sechziger und siebziger Jahren
fortgesetzt: so gab es Kant in sechs Bänden, ausgewählte Schriften
von Schelling u. a. Eine zweite, damit zusammenhängende Voraussetzung ist
linguistischer Natur: Es lässt sich zumindest teilweise eine Affinität
zwischen den Strukturen der russischen und der deutschen philosophischen Sprache
behaupten. Die Menge von Substantiven, die man durch den Genitiv miteinander
verknüpfen kann – im Unterschied zum Englischen oder Französischen,
wo das Verb herrscht – macht das Russische für die Übertragung
von deutschen philosophischen Konstruktionen empfänglich, gerade auch für
die bei Heidegger häufige Arbeit an Prä- und Suffixen.
Eine literaturhistorische Voraussetzung für die starke Heidegger-Rezeption
ist darin zu sehen, dass die Schreibweise Heideggers in vielen Hinsichten gleichklingend
mit der poetischen und literarischen Tradition Russlands ist - man denke an
den Symbolismus, an Andrej Platonov u. a. Man findet hier sowohl als dort dieselbe
Achtung gegenüber dem Wort und eine Neigung zum sprachlichen Experimentieren.
Deswegen vielleicht sind unsere Heidegger-Übersetzer echte Meister auf
diesem Gebiet (Vladimir Bibichin, Tatjana Vasileva und Aleksandr Michajlov).
Nach zwanzig Jahre strenger Arbeit ist es ihnen gelungen, ein einmaliges Phänomen
zu schaffen: einen „russischen Heidegger“. Eine weitere Voraussetzung
liegt darin, dass im Vordergrund der russischen Rezeption Heideggers (mit wenigen
Ausnahmen) nicht seine Phänomenologie und Ontologie, sondern die Metaphysik
der Sprache steht, d. h. Heidegger nicht als Nachfolger der klassischen philosophischen
Tradition gesehen wird, sondern vielmehr als Dichter und Prophet. Die Wendung
zu Heidegger haben in großem Maße auch die intensiven Antike-Studien
der russischen Denker ermöglicht, und das ist eine zusätzliche Bedingung.
Für Anatolij Achutin, Dobrochotov und Vasileva ist Heidegger vor allem
als Vermittler zwischen dem antiken und dem modernen Denken wichtig.[2] Zuletzt
rührt die Sympathie für Heidegger in Russland besonders in der Provinz
auch von einem konservativ-romantischen Charakter seines Denkens her, einer
„Mythologie der Erde“, gepaart mit der Missachtung des Liberalismus
und der Verachtung der Demokratie.
Als Gründe für den prominenten Stellenwert, den heute in Russland
die Philosophie der 'Dekonstruktion' und der Poststrukturalismus insgesamt besitzt,
kann man wenigstens zwei nennen, einen kulturgeschichtlichen und einen gesellschaftlichen.
Der erste Grund liegt in der Tradition der strukturellen Linguistik und der
strukturellen Literaturwissenschaft. Roman Jakobson etwa begann seine Arbeiten
in Russland und veröffentlichte erste Ergebnisse auf Russisch; wir können
auch an den so genannten „Russischen Formalismus“ denken oder an
die semiotische Schule in Moskau-Tartu, deren bedeutendster Vertreter Jurij
Lotman war. Der zweite Grund liegt in der „condition postmoderne“
des gegenwärtigen Lebens in Russland, was ich bereits angesprochen habe.
Im Gegensatz zum Interesse an Heidegger und an der „Dekonstruktion“
steht der Mangel an Interesse für die analytische Philosophie und jegliche
kritische Philosophie der Gesellschaft. Vielleicht wird es einmal russische
Autoren geben, die Wittgenstein oder Russell fortsetzen, aber im Augenblick
ist das nicht wahrscheinlich. Was die neomarxistische Gesellschafstheorie angeht,
sieht es noch düsterer aus. Es gibt noch keine oder wenige Übersetzungen
von Louis Althusser, Ernst Bloch, Max Horkheimer - in starkem Kontrast zu Heidegger,
Deleuze und Foucault. Theodor W. Adorno ist so gut wie nicht präsent; Geschichte
und Klassenbewusstsein von Georg Lukacs ohne Übersetzung. Der Grund dafür
scheint die in Jahrzehnten der sowjetischen Herrschaft ausgebildete Allergie
gegen jeglichen Marxismus und verwandte Theorien gesellschaftlicher Veränderung
zu sein. Die Menschen sind der Utopien müde.
Die interessantesten philosophischen Versuche im gegenwärtigen Russland
haben nichts mit der Bewahrung der Tradition oder ihrer polemischen Überschreitung
zu tun.[3] Diejenigen Autoren, die mit Recht als Philosophen angesehen werden
können, machen sich keine Sorgen darum, welcher Tradition sie „angehören“.
In Vladimir Biblers Arbeit lassen sich Einflüsse von Bachtin und Marx feststellen.
Biblers Schüler Achutin stützt sich in gleicher Weise auf die Tradition
der Dialogphilosophie wie auf den russischen Idealismus der Jahrhundertwende
und auf eine existentielle Phänomenologie Heideggerscher Prägung.
In den Reden und Gesprächen von Merab Mamardasvili sind die Stimmen von
Descartes und Husserl, Hegel und Kojsve zu hören.[4] Mamardaschvilis Schüler
Valerij Podoroga und Michail Ryklin nähren sich aus verschiedenen Quellen.
Podoroga versucht, die Postulate des Poststrukturalismus (v. a. Deleuze) und
der französischen Phänomenologie (Merleau-Ponty) mit den Einsichten
von Flerenskij und Andrej Belyj zu verbinden. Ryklin erweist sich als konsequenter
Nachfolger der Sprachmetaphysik und ist auch von Heideggers Fundamentalontologie
inspiriert, kaum weniger ist er von den Kirchenvätern der Ostkirche beeinflusst.[5]
Schlussbemerkung
Die Auseinandersetzung mit der Tradition russischen Denkens im heutigen Russland
habe ich natürlich vereinfacht dargestellt, indem ich nur zwei Ansätze
unterschieden habe. Der eine, den man den russozentrischen nennen kann, arbeitet
für die Wiederkehr einer nationalen Tradition. Der andere, nicht weniger
konventionelle Ansatz, den man den „westlerischen“ nennen kann,
zielt auf die Wiederherstellung einer supranationalen, eben westlichen Kultur.
Mit diesem Schema sollte aber eigentlich nur die methodische Affinität
beider Richtungen betont werden, und damit die Verwandtschaft im Umgang mit
Tradition. Bei allen Unterschieden können beide hermeneutisch genannt werden,
denn beide betrachten Tradition unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität.
Diskontinuität wird in beiden Ansätzen entweder verschleiert oder
ignoriert, nicht aber durchdacht. Ein verletztes Kontinuum an Tradition soll
hier wie dort ganz einfach wiederhergestellt werden. Daraus folgt die implizite
„Hermeneutik“, die beide male das Bild der Ideengeschichte als kontinuierlicher
bestimmt und an der Widersprüchlichkeit der realen Kulturgeschichte vorbeigeht.
Wie bereits gesagt, handelt es sich um eine gewisse Mythologisierung der Tradition.
Je nach Ideal konstruieren russische Intellektuelle das phantastische Bild einer
ununterbrochenen Geschichte des russischen Geistes, vor allem auf dem Gebiet
der Philosophie- und der Literaturgeschichte. Sie versuchen, die Sowjetzeit
nicht als Bruch zu sehen, oder aber deren geistige Produktion abzuwerten, zu
ignorieren, um diese Periode ihrer Geschichte aus dem Gedächtnis zu löschen.
Mir scheint ein absichtliches Vergessenwollen aber ebenso künstlich wie
die absichtliche Wiederaufrichtung einer reinen Tradition. Nur diejenige intellektuelle
Arbeit ist produktiv, welche die Kulturgeschichte nicht zugunsten einer idealen
Tradition vergewaltigt.
Literatur
ACHUTIN, A. 1997 „Schvatka o bytij“ (Der Streit über das Sein),
Moskau
BIBICHIN, V., 1995 „Mir“ (Welt), Tomsk
BIBLER, V., 1991a „Ot naukoutsch enija k logike kultury“ (Von der
Wissenschaftslehre zur Logik der Kultur), Moskau
BIBLER, V. 1991b mit A.Achutin und E.Vokova „XVII vek ili spor logitscheskich
natschal“ (Das XVII. Jahrhundert oder der Streit um logische Begründungen),
Moskau
DOBROCHOTOV, A., 1986 „Kategorija bytija v klassitscheskoj i sovremennoj
zapadnoevropeiskoj filosofii“ (Der Begriff des Seins in der klassischen
und in der gegenwärtigen westeuropäischen Philosophie), Moskau
MALACHOV, Vladimir, 1995, „Ist Philosophie auf Russisch möglich?“,
in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1995/1.
ders., 1996, „Über 'russische postmoderne' Philosophie“, in:
Russische Philosophie im 20. Jahrhundert, hg. v. Klaus-Dieter Eichler und U.
J. Schneider, Leipzig 1996.
MAMARDASCHVILI, M., 1993 „Karteziankije razmysschlenija“ (Cartesianische
Meditationen), Moskau
MAMARDASCHVILI, M., 1995 „Lekzii u Pruste“ (Vorlesungen über
Marcel Proust), Moskau
NETHERCOTT, Frances, 1996, „Philosophieren unter Stalin und unter Nikolaj
I.“, in: Russische Philosophie im 20. Jahrhundert, hg. v. Klaus-Dieter
Eichler und U. J. Schneider, Leipzig 1996.
RYKLIN, M., 1997, „Iskusstvo kak prepjatstvie“ (Kunst als Hindernis),
Moskau
VAN DER ZWEERDE, Evert, 1994, Soviet Philosophy - the Ideology and the Handmaid.
A Historical and Critical Analysis of Soviet Philosophy, Nijmegen 1994.
VASILEVA, T., 1986 „Filosofskij jasyk Platona I Aristotelja” (Die
philosophische Sprache von Platon und Aristoteles), Moskau
Anmerkungen
[1] Vgl. dazu MALACHOV 1995, S. 63 - 73.
[2] Vgl. VASILEVA 1986, ACHUTIN 1997, BOBROCHOTOV 1986
[3]Vgl. MALACHOV 1995, BIBLER 1991a, 1991b, BIBICHIN 1995, MAMARDASCHVILI 1993,
1995, PODOROGA 1995, RYKLIN 1997
[4] Mamardaschvili schrieb selbst so gut wie nichts und zog es vor, seine Gedanken
mündlich mitzuteilen. Seine Vorträge wurden aber von Hunderten von
begeisterten Zuhörern aufgenommen und nach seinem Tod (1991) in Büchern
dokumentiert, welche die Atmosphäre des nichtoffiziellen Philosophierens
der Sowjetzeit gut wiedergeben. Vgl. auch NETHERCOTT 1996, S. 23 - 34 und VAN
DER ZWEERDE 1994.
[5] Zu Podoroga und Ryklin vgl. MALACHOV 1996, S. 58 - 76.
Vladimir Malachov ist leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Philosophie der Russischen Akademie der Wissenschaften.